Eine Ataxie (griechisch „Unordnung“) ist eine Bewegungs- und Koordinationsstörung, erkennbar an einem breiten oder steifen, tapsigen oder torkelnden Gang der Katze. Dabei kann die Katze auch das Gleichgewicht verlieren und zu einer Seite, nach vorne oder hinten umkippen, um dann meistens wieder aufzustehen und weiterzulaufen, als wäre nichts gewesen. Katzen mit Ataxie werden auch liebevoll „Wackelkatzen“ genannt. Tierpsychologin Barbara Helferich über Ataxie und ein mögliches Training für betroffene Katzen.
Je nach Stärke und Ursache zeigt sich die Ataxie bei jeder Katze unterschiedlich. Bei einigen Katzen kann man ein Kopfzittern (Tremor), eine Geräuschempfindlichkeit oder auch eine falsche Abmessung von Zielbewegungen (Dysmetrie), zum Beispiel beim Fressen, beobachten. Neben dem allgemeinen ungeordnetem Bewegungsablauf und dem unsicheren Stehen ist häufig eine breite Haltung der Vorderbeine beim Sitzen zu sehen. Feline Ataxie wird ausgelöst durch Schäden am Zentralen Nervensystem, also am Kleinhirn (Cerebelläre Ataxie) oder am Rückenmark (Sensorische/Sensible Ataxie). Auslöser können Verletzungen, Unfälle aber auch Virus-Erkrankungen, Vergiftungen, Stoffwechselprobleme oder Mangelerscheinungen sein. Die Cerebelläre Ataxie wird am häufigsten beobachtet. In den meisten Fällen kam das Muttertier während der Trächtigkeit mit dem Feline Parvovirus (FPV, Katzenseuche) in Kontakt. Dies kann durch eine Infektion oder einer Impfung gegen FPV mit Lebendimpfstoff in der Trächtigkeit geschehen. Die Katzenkinder im Mutterleib können dabei mit FPV infiziert werden. Sterben sie nicht, können sie durch Schädigungen am Kleinhirn Ataxie ausbilden. Etwa zwei bis drei Wochen nach der Geburt, wenn die Kleinen zu laufen beginnen, wird die Ataxie sichtbar. „Da diese Symptome auf eine schwere Behinderung hindeuten können, ist die Bereitschaft eine Ataxiekatzen aufzunehmen und bei einem Tierarzt vorstellig zu werden sehr gering.“ sagt der veterinärmedizinische Berater und Vorstand von Kitz’n’katz-Europa, Dr. Jürgen Becker.
Ihnen wird als „schwerkranke“ Katze die Lebensfreude abgesprochen und keine Entwicklungsmöglichkeiten nachgesagt. Feline Ataxie ist keine Krankheit, an der die Katzen leiden. Ataxie ist eine Behinderung, die bei den betroffenen Katzen bei artgerechter Haltung in keiner Weise die Lebensfreude mindert. „Viel zu häufig werden daher die scheinbar schwerbehinderten Katzen aus Unwissenheit oder Überforderung noch im Welpenalter von ihrem vermeintlichen Leiden „erlöst“. Da Ataxien als solche keine Schmerzen verursachen und auch das Wohlbefinden der Tiere häufig nicht beeinträchtigt ist, hat es sich der deutsche Verein „Feline Senses – Lebensfreude für Katzen mit Ataxie e.V.“ (www.ataxiekatzen.de) zur Aufgabe gemacht, Aufklärungsarbeit in Sachen Ataxie zu leisten und den Haltern betroffener Katzen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.“, berichtet DDr. Regina Binder, welche an der Veterinärmedizinischen Universität Wien unter anderem im Bereich Tierschutz- und Veterinärrecht forscht und lehrt.
Eine Katze mit Ataxie kann ein langes und vor allem schönes Leben, mit nur wenigen Einschränkungen führen. Menschen haben eher als die betroffene Katze ein Problem mit dieser Behinderung. „Ataxie ist kein Grund eine Katze zu „erlösen“. Denn diese Tiere haben Lebensqualität und die Aussicht auf Besserung ihres Zustandes. Ich kann an dieser Stelle, sowohl als Vorstand eines Tierschutzvereins als auch als Veterinärmediziner sagen, dass es sich immer lohnt eine „behinderte“ Katze aufzunehmen und ihr ein Leben in menschlicher Obhut zu geben.“, so Dr. Jürgen Becker.
Therapie für Ataxiekatzen
Wie viele Ataxiekatzenhalter bestätigen, findet in den meisten Fällen über Jahre eine Verbesserung der Symptome statt. Die dreijährige Lilly hat sich wahrscheinlich schon im Mutterleib mit dem Parvovirus infiziert. Vor einem Jahr zog sie in ihr endgültiges Zuhause. Halterin Sandra Langer hat nicht den Eindruck, dass sich Lilly als behindert sieht. Dank regelmäßigem Training kann Lilly auf Kratzbäume und das Sofa klettern. „Sie nimmt neue Herausforderungen an, öffnet heute angelehnte Türen und spaziert ohne Probleme hindurch. Die bisher erzielten Fortschritte sind beeindruckend. Die Koordination ist deutlich verbessert“, freut sich Langer. “Wackelkatzen“ können mit der Zeit ihre Einschränkungen durch Übung und Training teilweise kompensieren. Oft gibt es bereits eine erste schnelle Verbesserung mit dem Wechsel vom Tierheim in ein liebevolles Zuhause. Dort können die Ataxie-Katzen wesentlich individueller betreut und gefördert werden. Durch gezieltes und regelmäßiges Training übernehmen die nicht von der Schädigung betroffenen Gehirnbereiche die „ausgefallenen“ Funktionskreise, wie man es beispielsweise auch bei menschlichen Schlaganfallpatienten kennt. Einstein kam im Alter von etwa neun Wochen in sein endgültiges Zuhause. „Schon nach sechs Wochen Training waren deutliche Fortschritte zu verbuchen“, berichtet Halterin Katrin Wiebach stolz. „Die Koordination und das Laufen klappen nun richtig gut. Mit bewundernswerter Ausdauer überwindet Einstein jedes Hindernis. Er ist ein lebensfroher, verschmuster kleiner Kater“ so Wiebach.
Sari die kleine „Wackelkatze“
Sari wurde am 28. August 2008 geboren. Zwei Tage später kam sie zusammen mit ihren Geschwistern, ihrer Mutter und der Tante in den Frankfurter Katzenschutzverein. Während der Trächtigkeit kam ihre Mutter mit dem Felinen Parvouirus (Erreger der Katzenseuche) in Kontakt. Sari wurde vermutlich mit dem Virus infiziert. Ihre Geschwister hatten mehr Glück. Bei Sari wurde die Ataxie in der fünften Lebenswoche sichtbar. Anfang 2009 zog die Kleine in ihr neues und endgültiges Zuhause bei Barbara Helferich ein.
Sari tritt anders auf, läuft langsamer und steifer, verliert öfter ihr Gleichgewicht und trägt ihren Schwanz aufgrund von Spastiken oft über dem Rücken. Ist sie unkonzentriert rutschen ihr die Beine weg. Beim Beriechen, wippt der Kopf vor und zurück, ähnlich wie bei einem jüngeren Kitten. Auf Stühle oder höhere Plätze kann sie nicht hinaufspringen, diese jedoch hochklettern. Der Rückweg ähnelt meistens einem Absturz. Beim Drehen hat Sari einen großen Wendekreis. Ist es zu eng, wird die Drehung schwierig. Außer der Ataxie hat Sari Epilepsie. Die Anfälle verschlechtern kurzzeitig ihre Ataxie. Durch gezieltes Training konnte Sari erstaunliche Fortschritte erzielen. Die Spastiken haben sich weitestgehend gelöst, die epileptischen Anfälle sind aufgrund einer Ernährungsumstellung (getreidefreie Kost ohne Linolsäure aus Pflanzenteilen) unter Kontrolle. Heute sprüht Sari voller Lebensfreude, hüpft wie ein Häschen ihren Spielsachen hinterher und läuft zügig ohne Umzufallen. Sari ist Vereinsbotschafterin des Vereins „Feline Senses – Lebensfreude für Katzen mit Ataxie e.V.“ und trägt maßgeblich dazu bei, das Thema Ataxie bei Katzen immer bekannter zu machen. „Sari, das „Vereinsmaskottchen“ von „Feline Senses“, ist das beste Beispiel dafür, dass sich Ataxie-Katzen keineswegs behindert fühlen und oft voller Lebensfreude sind!“, sagt DDr. Regina Binder.
Einen für alle Ataxisten allgemein gültigen Trainingsplan gibt es nicht. Entsprechend der Form und Ausprägung der Ataxie ist das Training individuell auch anzupassen und die Tagesform der Katze zu berücksichtigen. Denn auch wenn das Training Spaß macht, bleibt es anstrengend für das Tier und ermüdet es. Daher sollte lieber kürzer und dafür mehrmals täglich trainiert werden.
Wie kann man sich das Training einer Ataxiekatze vorstellen? Der Trainingsplan und -geräte von Ataxiekatze Sari mögen nachfolgend als Beispiel dienen.
Hundemantel: Der wattierte Hundemantel umschließt den Bauch. In diesem „Trainingsgerät“ bewegt sich Sari automatisch anders, durch die Berührung am Bauch geht sie mit hochgestreckten Beinen, und trainiert somit ihre Muskeln. „Sari mochte den Mantel sofort, er hat ihr schon gut geholfen. Sie zeigt aber auch, wenn es genug ist und es gibt Tage, da möchte Sari das Mäntelchen nicht anziehen.“, erläutert Helferich.
Hundehöschen: Hygienehöschen für läufige Hündinnen geben dem Schwanz Halt. Durch die Berührung um die Schwanzwurzel fällt das Laufen leichter und stabilisiert den Gang.
Lauftraining: Das Lauftraining trainiert die Koordination und die Muskulatur. Bevorzugt jagdt Sari einer Spielangeln hinterher. Bälle sind ebenfalls gut geeignet. „Sari läuft ihren Spielsachen zügig hinterher, teilweise springt sie dabei wie ein Häschen. Es macht ihr sichtlich Freude“, erklärt Helferich.
Laufen über verschiedene Strukturen: Bei dieser Übung werden Koordination und Konzentration trainiert und die Sinne angesprochen. Hierbei läuft Sari der Spielangel über unterschiedliche Strukturen in unterschiedlichen Höhen hinterher. Je nach Struktur verändern sich die Bewegungen. Als Untergrund dienen Böden aus Teppich, Stein, PVC und Sisal, Kokos-, Noppen und Schmutzfangmatten, Badvorleger, Handtücher, Schaffelle, Kissen, Plastiktüten, Zeitungspapier, Karton, Steine und Pflastersteine, , Sand, Bücher, Laub, flache breite Treppenstufen, Erde und Gras im Garten, – und vieles mehr. Da es gilt, mit allen Sinnen zu trainieren, gehören neben den unterschiedlichen Bodenstrukturen auch verschiedene Düfte dazu. „Sari hat ein Kräuterbeet, in dem sie nach Herzenslust schnüffeln darf. Auch bringen wir ihr aus der Natur interessant duftende Gegenstände mit. Das können Steine, Wurzeln, Blätter, Tannenzapfen und ähnliches sein – aber nur ungefährliche und ungiftige Gegenstände“, so Helferich.
Konzentrations- und Geschicklichkeitstraining
Ballspiele: Bälle in verschiedenen Größen, Gewichten und Materialien wie Tischtennis-, Schaumstoff-, Plüsch-, Noppen-, Fell- oder Gummibälle eignen sich für dieses Training, bei dem die Katze den Ball anstupst und über den Boden rollt.
Spielführungsschienen mit Ball: Konzentration und Koordination werden trainiert und Seh-, der Hör- und der Tastsinn angesprochen, um den Ball zu treffen. Über Sari sagt Helferich: „Übung macht den Meister, es klappt heute schon richtig gut!“
Das Leben mit einer Ataxiekatze
Individuelle Anpassungen im Umfeld der Katze erleichtern ihren Alltag. Wie beim Training gilt: Anpassungen werden entsprechend der Ausprägung der Ataxie vorgenommen. Durch gute Beobachtung der Katze und ein wenig Kreativität findet man die individuelle Lösung für jede Katze. Beispiele, die sich in der Praxis als nützlich erwiesen haben:
• Teppichböden oder Laufwege, zum Beispiel aus großen Schmutzfangmatten, helfen den Ataxisten, die auf glatten Böden keinen Halt finden.
• Ein erhöhter Futternapf mit einer großen Fläche und einer leichten Schräge hilft Ataxisten, die gut gehen und stehen können. Nicht so mobile Katzen, die sich zum Fressen auf den Bauch legen, kommen dagegen mit einer flachen Schüssel gut zurecht.
• Anstatt der üblichen Katzentoiletten eignen sich für einige Ataxiekatzen ausreichend große Kunststoffhundekörbchen (ohne Lüftungsschlitze). Hohe Seitenränder, geräumiges Platzangebot sowie niedriger und großzügiger Einstieg erleichtern den Toilettengang. Anderen Ataxisten genügt eine Haubentoilette, an deren Rändern sie sich abstützen können. Ataxisten, die auf Katzenstreu keinen Halt finden, kommen mit flachen Backblechen zurecht, die mit saugfähigen Küchenrollenblättern ausgelegt sind.
Besondere Vorsicht! „Die dritte Dimension“ ist an Stellen, die durch Klettern erreicht werden können, natürlich auch für Katzen mit Ataxie zugänglich. Bett, Sofa und Kratzbaum sollten für den Abstieg mit weichen Kissen abgesichert werden. Treppen sollten im Regelfall unzugänglich gemacht werden, da es durch Abstürze zu schlimmen Verletzungen kommen kann. Eine Katze mit Ataxie, egal wie stark die Ausprägung der Symptome ist, sollte keinen ungesicherten Freilauf bekommen. Bei Revierkämpfen sind Ataxisten deutlich benachteiligt. Die üblichen Gefahren, die bereits völlig „gesunden“ Katzen drohen sind zudem für einen Ataxisten doppelt gefährlich.
Narkose und Impfrisiko
Bei anstehenden Operationen ist zu berücksichtigen, dass die Auswirkungen einer Narkose auf das angegriffene Zentrale Nervensystem schwer abzuschätzen sind. Für Katzen mit Ataxie empfiehlt sich die Inhalationsnarkose, die nicht nur individueller als eine Injektionsnarkose dosiert sondern im Notfall auch schneller abgebrochen werden kann.
Wogegen und wie oft Katzen geimpft werden sollten, ist allgemein umstritten und sollte von jedem Katzenhalter individuell entschieden werden. Bei Katzen mit Ataxie kommen jedoch einige besondere Risiken hinzu. Vor eine Impfung sollte ein ataxie-erfahrener Tierarzt eine genaue Anamnese durchführen: Welche Impfungen sind wirklich erforderlich oder sinnvoll? Welche Infektionen hat die Katze mit hoher Wahrscheinlichkeit schon durchgemacht? Kann man eventuell eine Titer-Bestimmung durchführen und ist diese sinnvoll, um unnötige Impfungen zu vermeiden? Entschließt man sich zur Impfung, sind adjuvansfreie Impfstoffe zu verwenden (Ausnahme Tollwut: hier gibt es kein adjuvansfreies Vakzin, so dass eine Erforderlichkeit besonders sorgfältig geprüft werden muss). Lebendimpfstoffe können bei immungeschwächte Katzen einen Krankheitsschub verursachen. Mehrfachimpfstoffe sind für Katzen generell nicht empfehlenswert, da die Nebenwirkungswahrscheinlichkeit überproportional hoch ist. Besser geeignet sind Einzelvakzine. Haben Katzen ihre Ataxie durch eine Parvovirose-Infektion im Mutterleib erworben, dürfen sie keinesfalls gegen Katzenseuche (FPV) geimpft werden. Sie haben zum einen bereits genügend Antikörper, zum anderen kann sich die Ataxie durch die Impfung verstärken.
Weitere Infos:
https://www.ataxiekatzen.de
Forum rund um das Thema Ataxie bei Katzen: https://ataxiekatzen.plusboard.de/
Mehr zu Sari: https://www.saricat.de
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