Oft ist die Verhaltensmedizinerin nicht der erste Ansprechpartner für Verhaltensprobleme von Katzen. Anders als bei Hunden ist dieser Zweig der Tiermedizin noch unbekannter und so gelten Katzen einfach als „verrückt“ und „schon immer etwas verschroben“ und erhalten nicht die ihrem psychischen Wohlbefinden angemessene Aufmerksamkeit.
Die Stimmung im Haushalt ist unerträglich angstbesetzt. Lina und Momo streiten viel, und zwar lautstark. Genau genommen verfolgt Lina, eine fünf Jahre alte Europäisch-Kurzhaar-Katze, die gleichaltrige, etwas kleinere Thai-Katze Momo seit geraumer Zeit prügelnd in jeden Rückzugswinkel ihres gemeinsamen, 65 Quadratmeter großen Lebensraums. Momo flüchtet dann ängstlich fauchend oder kommt erst gar nicht mehr aus ihrem Versteck hervor – jede ihrer Bewegungen wird durch Lina kontrolliert. Zu allem Überfluss fürchten sich auch die menschlichen Familienmitglieder immer mehr vor Lina. Möchte jemand sie wie früher abends beim Fernsehen auf dem Sofa streicheln, läuft er Gefahr, gekratzt und gebissen zu werden. Linas Frauchen Frau Seiler sagt, sie habe mittlerweile „schon alles probiert“. In einem Internetforum las sie, dass Pheromone helfen. Eine Tierkommunikatorin stellte Langeweile fest und empfahl Bachblüten und Beschäftigung. Der immerhin kostenneutrale Rat der Nachbarn, es die Katzen doch „unter sich ausmachen zu lassen“, produzierte nur weitere Eskalation und Verletzungen. Allein beim Tierarzt konnte Lina noch nicht vorgestellt werden. Lina kotet sich nämlich auf dem Weg dorthin regelmäßig vor Angst ein und kein Familienmitglied traut sich mehr, sie überhaupt in einen Transportkorb zu bugsieren. Frau Seiler ist schier verzweifelt, da sie ihre Katze nicht mehr versteht und keine der bisherigen Maßnahmen geholfen hat. Auf der telefonischen Suche nach Rat empfiehlt ihr eine Tierarztpraxis, Kontakt mit einer Verhaltensmedizinerin aufzunehmen.
Das eben beschriebene Szenario ist typisch für einen verhaltensmedizinischen Katzenfall. Die Verhaltensmedizin ist vergleichbar mit der Psychiatrie in der Humanmedizin und befasst sich mit der Diagnose und Behandlung von Verhaltensstörungen und psychischen Erkrankungen bei Tieren. Sie ist interdisziplinär und erfordert über die Kenntnisse und Erfahrungen der körperlichen klinischen Veterinärmedizin hinaus Zusatzqualifikationen in Verhaltenskunde, Neurophysiologie, Psychopharmakologie, Psychologie, Psychopathologie, Tierschutz und Ethik. Dadurch kann die Verhaltensmedizinerin nicht nur über die geistige Gesundheit der Tiere wachen, sondern in ihrer Analyse immer auch die komplexen Zusammenhänge von Körper und Geist ihrer Patienten berücksichtigen. Nicht selten können Erkrankungen der verschiedenen Organsysteme Auslöser eines abweichenden Verhaltens sein, so zum Beispiel schmerzhafte Erkrankungen an Zähnen und Bewegungsapparat, Erkrankungen des Harntraktes, des Atmungs-, Herz-Kreislauf- oder Verdauungsapparats, des Hormon- und Nervensystems, der Haut oder der Sinnesorgane.
Was ist normal?
Prinzipiell physiologische Verhaltensweisen wie aggressives Verhalten (im Beispiel von Lina und Momo), Kratz- oder Harnmarkieren können sowohl Grundlage für Problemverhalten sein als auch zum Symptom von Verhaltensstörungen werden – und in beiden Fällen die Mensch-Katze-Beziehung belasten. Die Verhaltensmedizin kann Problemverhalten von echten Verhaltensstörungen abgrenzen.
Verhaltensprobleme stellen in der Regel zwar die Geduld des Tierhalters auf die Probe, es handelt sich aus Sicht des Tieres jedoch um einen noch gelungenen Anpassungsversuch an die ihm vorgegebene Umwelt. Die Katze zeigt zwar ein störendes, nicht jedoch gestörtes Verhalten. Dieselben Symptome können unter anderen Vorzeichen auch bei Verhaltensstörungen auftreten. Bei diesen vermag sich die Katze trotz ihrer Bemühungen nicht mehr erfolgreich anzupassen. Da Katzen Gefühle, Stimmungen und Ängste wie wir haben und auch ebenso lernen und erkennen können, leiden sie ebenso wie Menschen ganz erheblich unter Verhaltensstörungen, zu denen Angstzustände und Phobien, Störungen des Sozialverhaltens, Zwangsstörungen, depressive Störungen oder Hyperaktivität wie auch altersbedingter Gedächtnisverlust gehören.
Beim Katzenpsychiater
In der verhaltensmedizinischen Konsultation erfolgt die Befunderhebung zu den Verhaltenssymptomen der Katze durch deren körperliche und psychische Untersuchung sowie die Befragung des Tierhalters, des „Co-Therapeuten“. Unter Umständen können weitergehende Untersuchungen, wie zum Beispiel Blut- und Harnuntersuchungen oder Röntgenaufnahmen und Ultraschall, nötig werden. Die Verhaltensmedizinerin arbeitet zu diesem Zweck direkt mit dem Haustierarzt zusammen und bringt bei Bedarf tierärztliche Spezialisten (beispielsweise einen Chiropraktiker) ins Spiel. Auf Grundlage aller Befunde formuliert sie eine oder mehrere Diagnose(n) und Prognose(n). In Zusammenarbeit mit dem Katzenhalter erarbeitet die Verhaltensmedizinerin die therapeutischen Maßnahmen und legt gleich einen Termin für das Follow-up-Gespräch fest. Mögliche Therapieansätze sind:
– Verhaltensmodifikation und Training der Katze (beispielsweise durch systematische Desensibilisierung, klassische oder instrumentelle Gegenkonditionierung)
– Veränderung der Lebensbedingungen und Ressourcen der Katze, darunter auch die Etablierung ausreichender und artgerechter mentaler und körperlicher Beschäftigung
– Beeinflussung von Stimmungslage, Emotionen und Verhalten der Katze, Herstellung ihres Wohlbefindens und der für die Heilung notwendigen Lernfähigkeit durch Arznei-, Futter- und Nahrungsergänzungsmittel sowie Pheromone
– Reparatur der entstandenen Beziehungsfrakturen im Katze-Mensch-System im Rahmen der verhaltensmedizinischen Konsultation (zum Beispiel durch Aufklärung über die Ursachen des gezeigten Verhaltens)
Im Fall von Lina und Momo kann die Verhaltensmedizinerin durch eine genaue Untersuchung des gesamten Systems Licht ins Dunkel bringen sowie Katzen und Menschen wieder zusammenführen. Mit viel Belohnung in Form von Leckerchen untersucht sie während ihres Hausbesuchs die Tierarztphobikerin Lina auch körperlich. Mit Erfolg: Die tierärztliche Allgemeinuntersuchung zeigt, dass Lina ein massives Schmerzproblem hat. Viele ihrer Zähne sind von FORL (Feline Odontoklastische Resorptive Läsionen) zerstört und damit stark schmerzhaft. Auch reagiert Lina bei der Untersuchung ihrer Lendenwirbelsäule deutlich mit Abwehr.
Trotz der an sich schlechten Nachrichten ist Frau Seiler erleichtert. Mit dem Auffinden körperlicher Ursachen für die aggressiven Auseinandersetzungen besteht jetzt nämlich die Möglichkeit, diese durch Behandlung zu beseitigen und eine Grundlage für verhaltenstherapeutische Maßnahmen zu schaffen. Der Haken dabei: Linas Frauchen mag weder ihre Katze anfassen und in die Transportbox setzen, noch kann sie ihr den Stress von Transport, körperlicher Untersuchung, Röntgen, Blutentnahme und Zahnsanierung unter Narkose in der Kleintierpraxis zumuten. Durch die Zusammenarbeit von Haustierarzt und Verhaltensmedizinerin kann eine tierschutz- und verhaltensgerechte Lösung für Linas Transport und Therapie gefunden werden. Katze und Halterin sind entspannter als vorher. Nach Linas körperlicher Gesundung unterstützt die Verhaltensmedizinerin die beiden „Damen“ Lina und Momo dabei, wieder zueinanderzufinden.
Verhaltensmedizin in der Tierarztpraxis
Das psychische Wohlbefinden der Katze ist auch ein wichtiges Thema für den praktischen Tierarzt. Dieser kann bei den jährlichen Routineuntersuchungen körperliche Erkrankungen erkennen, die zu Verhaltensproblemen und -störungen führen können. Zudem ist er auch der erste Ansprechpartner bei Verhaltensfragen rund um die Katze. Die Themen sind je nach Lebensabschnitt der Katze komplett unterschiedlich: Das Kätzchen, welches beim Spiel mit dem Menschen die Krallen einsetzt; die pubertierenden Halbstarken; die soziale Reife erreichenden Katzen, bei denen der Haussegen gern beginnt, schief zu hängen; die Seniorin, die ihr Katzenklo nicht mehr findet oder nachts auf dem Flur herumschreit. Ist der Tierarzt der Meinung, der Beratungsbedarf überschreitet – wie oft bei Verhaltensfragen der Fall – den der regulären Sprechstunde, wird er einen Extratermin vergeben und gegebenenfalls zu einem spezialisierten Kollegen überweisen.
Erkrankungen der Katze können darüber hinaus aber auch durch Stress und Angst erst ausgelöst oder begünstigt werden. Ein Beispiel ist die Feline Idiopathische Cystitis (FIC), bei der es sich nach neueren Studien nicht um eine reine Harnblasenerkrankung handelt, weshalb ihr Name irreführend ist. Es ist für die einzelne Katze immer vorteilhaft, wenn der Tierarzt sie als psychische und körperliche Einheit betrachtet. Indem er potenziellen Stress- und Angstzuständen seiner Katzenpatienten nachgeht, ermöglicht er erst eine langfristig erfolgreiche Behandlung, wie zum Beispiel der bereits erwähnten FIC, aber auch von Magen-Darm-, Hauterkrankungen und Adipositas. Die chronisch erkrankten und oftmals von Rückfällen gebeutelten Patienten profitieren eindrucksvoll davon, wenn ihre Lebensumstände verbessert und Stressauslöser in ihrer Umwelt reduziert werden. Auch hier übersteigt der Beratungsbedarf in der Regel die Kapazitäten der normalen Sprechstunde. Eine spezialisierte verhaltensmedizinische Beratung kann helfen, individuelle Programme zur Vermeidung bzw. Abmilderung stressassoziierter Erkrankungen bei der jeweiligen Katze durch Stressreduktion im Katzenhaushalt zu entwickeln.
Nicht zuletzt hat sich durch die Entwicklung der Verhaltensmedizin in Deutschland der Umgang mit Katzen und Katzenhaltern in der tierärztlichen Allgemeinpraxis selbst verändert. Da ist zunächst einmal der Katzenbesitzer, der durch den Stress seines Tieres vor oder während der Behandlung den puren Horror erleidet. Katzenfreundliche Praxen reagieren empathisch darauf und bieten eine entsprechende Beratung, zum Beispiel zu angstfreiem Boxentraining oder optimalem Besitzerverhalten (siehe Kasten). Im Umgang mit der Katze selbst zeigt das geschulte tierärztliche Team Verständnis für deren besondere Sinnesleistungen, berücksichtigt ihre Kommunikation und Verhaltenskonzepte. So reagieren Katzen bei Bedrohung zum Selbstschutz leicht mit Flucht oder aggressivem Verhalten – oder sie erstarren. Beide Handlungsoptionen stehen aber ihrer Untersuchung und erfolgreichen Behandlung im Weg.
Katzenfreundliche Praxen nehmen Rücksicht darauf, dass Katzen leicht vor Unbekanntem erschrecken (Pflegepersonal, Futter, andere Tiere, Menschen) und ein hoch entwickeltes Bewegungssehen haben, weshalb schnelle Bewegungen für sie zusätzlich furchteinflößend sein können. Das empathische Praxisteam zollt auch dem exzellenten felinen Geruchs- und Gehörsinn Respekt und reduziert fremde oder starke Gerüche sowie lautere Geräusche weitestmöglich. Eine Überstimulation durch Anfassen kann bei Katzen durch deren besonders feinfühlige Hautnerven zu Stress führen. Manche Individuen erleiden sogar urplötzlich eine „Verhaltensexplosion“. Katzensensible Tierärzte halten daher ihre felinen Patienten so wenig wie möglich während Untersuchung und Behandlung fest. Sie vermitteln ihnen so Sicherheit und das Gefühl von Kontrolle über die Situation – ein Konzept, welches die Katze zu schätzen weiß. So freut sie sich auch über das Angebot adäquater Versteckmöglichkeiten wie beispielsweise ein Handtuch auf dem Behandlungstisch, da sie sich gern versteckt und lieber selber sieht als gesehen zu werden. Als ein weiteres Resultat dieser Empathie für die Spezies Katze bieten viele Praxen bereits separate Wartezimmer und Behandlungsräume für Katzen an. Schon vier tierärztliche Praxen in Deutschland behandeln ausschließlich Katzen.
Katzenfreundliche Praxen betrachten die Patientin Katze als körperlich-psychische Einheit. Sie richten das Praxisumfeld und den Umgang mit Katze und Besitzer darauf aus, stressige Einflüsse für beide zu minimieren und schaffen es, beiden ein Gefühl von Sicherheit und Aufgehobensein zu vermitteln. Daran nicht unwesentlich beteiligt ist die Verhaltensmedizin, interdisziplinäres Bindeglied und Advokat psycho-physischer Gesundheit.
Add Comment