Lisbeth maunzt, reibt sich an den sisalumwundenen Stangen des Kratzbaums, greift mit ihren Krallen in die kratzige Ummantelung und lässt sich langsam nach unten gleiten – wie ein Kind an der Kletterstange auf dem Spielplatz. Übermutig, verspielt – erst ein Blick in Lisbeths Gesicht zeigt, dass die kleine Katze blind ist.
Doch was ist das? Keine goldgelben Katzenaugen? Ein Anblick, an den man sich erst einmal gewöhnen muss. Lisbeth macht ihre Behinderung aber überhaupt nicht viel aus: Hat sie sich eben noch vom Kratzbaum heruntergehangelt, ist sie schon dabei, Fangspiele mit ihren fünf Mitkatzen zu spielen. Auflauern, durch die Wohnung rennen – Lisbeth lebt wie eine ganz normale Wohnungskatze.
„Ich hatte erst Angst, dass Lisbeth bei meinen fünf Katzen untergeht“, erzählt Elke Steigerwald, die die Katze Anfang Februar 2008 vom Tierschutzverein „Tierhilfe verbindet“ in Poing bei München übernahm. „Doch ein Telefonat mit der Pflegestellte überzeugte mich davon, dass Lisbeth eine ganz normale Katze ist, die sich auch bei anderen Artgenossen hervorragend behauptet.“ Auf das Schicksal der erst sechs Monate alten Mieze, die durch eine starke Katzenschnupfeninfektion erblindete, wurde Elke Steigerwald durch ein Katzenforum aufmerksam. Die Kraft, mit der Lisbeth alles meisterte, berührte sie so sehr, dass sie die Kleine bei sich aufnahm. Bei ihr lebt Lisbeth nun in einer kleinen Katzengruppe in Wohnungshaltung – denn so gut Lisbeth auch mit den alltäglichen Gegebenheiten klarkommt, Freigang wäre wohl etwas zu viel des Guten. „Lisbeth ist wahnsinnig lieb und verschmust, spielt und rauft sogar mit den anderen Katzen – sie unterscheidet sich in ihrem Verhalten absolut nicht von anderen, gesunden Katzen“, weiß Elke Steigerwald zu berichten.
Viele körperlich behinderte Katzen führen ein ganz normales Leben – das ist allerdings oft noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen. Auch Petra Brodt musste dafür, dass sie die dreibeinige Lucky nicht einschläfern ließ, viel Kritik einstecken. „Lucky wurde als Tochter einer halbwilden Streunerin auf unserem Grundstück geboren“, berichtet die Katzenfreundin über Luckys Schicksal. „Am linken Hinterbein fehlte ihr einfach unten die Pfote. Es gab einen Stumpf, dessen Abschluss und unteres Ende nur Knochen ohne Fell war. Diesen Stumpf haben wir dann später vollständig amputieren lassen, da Lucky sich ihn sich öfter anhaute und er dann auch entzündet war.“
Die Frage, Lucky einschläfern zu lassen, gab es für Petra Brodt nie. Lucky kommt hervorragend mit ihrer Behinderung klar, sie genießt ihren Freigang, fängt am liebsten Insekten und klettert sogar auf Bäume. Nur herunter zu kommen ist für sie oft etwas schwerer als hinauf. Lucky ist eine ganz normale Katze, auch den Tierarzt sieht sie nicht häufiger als völlig gesunde Tiere. Eins mag sie besonders: Das Kämmen an der linken Halsseite. Dort kann sie sich ja aufgrund der fehlenden Hinterpfote nicht so gut putzen wie andere Katzen.
Allerdings haben es behinderte Miezen nicht immer so leicht. Es gibt auch Behinderungen, die eine Katze um einiges mehr in ihrem Alltag einschränken und mehr Engagement von Seiten des Katzenhalters fordern. Kater Sisou zum Beispiel ist von Geburt an taub – er ist weiß und hat zwei unterschiedliche Augen, das führt genetisch bedingt oft zu Taubheit. Ursula Schabert nahm den Kater zu sich, als er knapp vier Monate alt war. Seinen Vorbesitzern blieb die Behinderung verborgen. Bedingt durch seine Taubheit ist Sisou besonders personenbezogen und sehr auf „seine“ Menschen bezogen. Seine Taubheit hat ihn etwas misstrauisch gegenüber anderen Menschen gemacht. „Wir müssen ihn bei Reisen über mehrere Tage entweder mitnehmen oder eine Bezugsperson muss bei ihm bleiben. Im Alltag muss man eine andere Kommunikation finden, weil man ihn ja nicht rufen kann. Da er nur geregelten Freigang hat, müssen Türen und Fenster sorgfältig geschlossen werden, denn er ist ein findiger Ausbrecher“, berichtet Frau Schabert, die auch noch drei weitere Katzen versorgt. Zweimal am Tag geht sie mit Sisou an der Leine spazieren – bei jedem Wetter. Möchte Sisou runter in den Hof, befestigt Ursula Schabert eine mobile Hundeleine. Aber auch hier ist stetige Wachsamkeit gefragt, damit Sisou sich nicht aus Versehen verletzt. Auch an der Leine ist er nämlich eine wahre Kämpfernatur, fremde Kater werden mit Gebrüll und Fauchen vertrieben.
Andrea Mocigemba kümmert sich gleich um drei „gehandicapte“ Katzen. Ihrer Katze Afishetu fehlen die Hinterpfoten, außerdem leben noch der Asthmatiker Mogli und Pflegekater Leo, der an Ataxie leidet, bei der Tierfreundin. Ataxie ist eine Störung des Kleinhirns, Ataxiekatzen haben oft Probleme mit der Körpermotorik.
„Afishetu ist in einem nicht ganz straff gespannten Katzennetz verunglückt. Sie rutschte von der Fensterbank und hing in dem Netz wie ein Rollbraten, dabei hat sie sich die Hinterfüße abgeschnürt und infolgedessen verloren“, erinnert sich Andrea Mocigemba. Trotz fehlender Hinterpfoten strahlt Afishetu aber so viel Lebensfreude aus, dass sie sich entschloss, der Katze wenigstens eine Chance zu einem Leben ohne Hinterpfoten zu geben. Sie hat es nie bereut – bald soll Afishetu sogar richtige „Pfotenschuhe“ von dem bekannten Tierorthopäden Dieter Pfaff erhalten. Auf die Frage, was den Alltag mit ihren Katzen von dem mit völlig gesunden Katzen unterscheidet, antwortet Andrea spontan „Gar nichts“. Und dann, nach einigem Nachdenken: „Gut, mit Afi muss ich halt öfters zum Tierarzt zwecks Verbandswechsel.
Der Asthmatiker Mogli wird auch öfter einmal beim Tierarzt vorgestellt als gesunde Katzen, schon zum Abhorchen, wenn seine Atmung mal wieder etwas geräuschvoller ist. Leo unterscheidet sich in der Pflege nicht von anderen Katzen. Eventuell muss man einmal mehr wischen, weil er sein gemütliches Nest nicht zeitig genug verlassen hat, um das Katzenklo rechtzeitig zu erreichen.“ Durch Afishetus Pfotenverlust kommen auch sehr hohe Kosten auf die Tierfreundin zu. Allein die Pfotenschuhe kosten etwa 300 Euro, das gleiche noch einmal für Wechselschuhe. Führt Afishetu wie erhofft ein langes Leben, sind sicherlich öfters „neue Schuhe“ nötig. So kann die körperliche Behinderung auch schnell zu einem wahren Kostenfaktor werden. Für Andrea Mocigemba sind Kosten aber relativ: „Wenn den Leuten der Fernseher kaputt geht, wird gar nicht diskutiert, da werden 600 Euro investiert, ohne drüber nachzudenken. Nur bei Tieren spricht man von „Kosten“ und denkt genau drüber nach, was investiert werden kann und was nicht…“
Jede Behinderung stellt unterschiedliche Anforderungen an den Katzenhalter. „Man sollte sich genau überlegen und informieren, welche Ansprüche die Behinderung an den Halter stellt und ob man das leisten kann. Bei einigen Behinderungen können da schon ein immenser Zeitaufwand und auch erhebliche Kosten auf einen zukommen“, gibt Petra Brodt zu bedenken. Oft ist Gestaltungswillen gefragt:„Dreibeiner sind zum Beispiel nicht so gut im Klettern und Springen. Darum sollten in der Wohnung Auf- und Abstiegshilfen vorhanden sein, damit sie auch in die „oberen Ebenen“ kommen und von dort auch wieder hinunter.“ Bei blinden Katzen dagegen sollte die Wohnung möglichst wenig verändert werden, damit sich die Katze ohne Probleme zurechtfindet.
Unterstützung finden Halter behinderter Katzen bei der Luna-Hilfe (https://www.luna-hilfe.de Update: Die Luna Hilfe ist seit Mai 2010 geschlossen), die auch gehandicapte Katzen vermittelt. Auslöser für die Initiative war die querschnittsgelähmte und inkontinente Katze Luna, die im Jahre 2002 von Claudia Wacker, der Gründerin der Luna-Hilfe, aufgenommen wurde (Update Oktober 2011: Leider ist Luna inzwischen verstorben. Hier der Nachruf ihrer Halterin: https://www.luna-cat.de/). Luna zeigt einen ungebändigten Lebenswillen. Ihre Hinterbeine sind zwar komplett gelähmt und nach vorne gestreckt, behindern sie dadurch aber nicht in ihren Bewegungen – auf ihrer Windel, die sie aufgrund der Inkontinenz tragen muss, robbt sie in einer Windeseile über den Boden, spielt mit ihren Mitkatzen und absolviert die täglichen krankengymnastischen Übungen, die Claudia Wacker mit einem Physiotherapeuten abgesprochen hat, mit Begeisterung. Selbst der Kratzbaum stellt kein Hindernis mehr dar, durch die Kraft ihrer Vorderbeine kann sich Luna affengleich hinaufziehen.
Ihre Beweglichkeit verdankt Luna unter anderem der Tierphysiotherapie. Ziel der Physiotherapie ist es, durch aktive und passive Bewegungen gelähmte und geschonte Muskeln wieder aufzubauen und die Beweglichkeit zu erhalten beziehungsweise zu fördern – gerade bei gelähmten Katzen kann die Therapie wahre Wunder wirken. Der Nachteil: Tierphysiotherapie ist sehr teuer. Claudia Wacker hat sich darum Rat von einem Tierphysiotherapeuten geholt und trainiert selbst mit ihrer Katze Luna. Mittlerweile gibt es deutschlandweit mehrere Tierphysiotherapeuten und klinische Einrichtungen. Informationen hierzu gibt es im Internet, bei der Luna-Hilfe und in der Linkliste am Ende des Artikels.
Ob Physiotherapie, Pfotenschuhe oder Latzhöschen: Es gibt viele Hilfsmittel, um auch gehandicapten Katzen ein artgerechtes Leben zu ermöglichen. Doch welche Voraussetzungen muss der Katzenhalter erfüllen? Für Ursula ist Zeit ein ganz wichtiger Faktor: „Am Besten hat man einen Job, der es ermöglicht, zu Hause zu arbeiten.“ Claudia Wacker dagegen ist Vollzeit berufstätig und versorgt eine pflegebedürftige Mutter nach der Arbeit. Dazu kommt die Tierschutztätigkeit. Trotzdem schafft sie es, Luna ein schönes Leben zu bieten. Ihre Meinung: „Wo ein Wille da ist, ist auch ein Weg. Man muss nicht zuhause sein, um ein Lunchen zu versorgen.“
Besitzer behinderter Katzen sollten gegebenenfalls bereit sein, ihr Leben der Katze anzupassen. Ursula hat zum Beispiel ihren Balkon in ein vergittertes Freigehege umbauen lassen, von wo aus Sisou etwas Freigang genießen kann. „Man braucht eine Menge Geduld und viel Liebe, aber auch Platz und die Möglichkeit, in der Wohnung Dinge zu verändern.“
Doch wie gehen die Katzen mit ihrer Behinderung um? Fühlen Sie sich trotz fehlender Beine, Taubheit oder Erblindung wohl? „Katzen nehmen ihre Behinderung sehr viel natürlicher hin als jeder Mensch. Sie leben einfach damit ohne darüber nachzudenken. Vielleicht braucht man ein „dickes Fell“ im Umgang mit seinen Mitmenschen“, weiß Andrea Mocigemba. „Viele Menschen sehen oft nur, dass das so eine Katze „defekt/nicht hübsch“ ist und man hat oft das Gefühl, man müsse sich rechtfertigen, warum man das gesunde aber „defekte“ Tier nicht euthanasieren lässt. Das kann nerven, gibt einem aber die Chance unter den Freunden und Bekannten die „Spreu vom Weizen“ zu trennen.“ Sie kann sich ein Leben ohne ihre „Haustyrannen“ nicht mehr vorstellen. „Ob die jetzt zwei, drei oder vier Pfoten haben, das spielt keine Rolle wenn man nur sieht, wie sie das Leben in vollen Zügen genießen.“
Sie sehen also: Auch gehandicapte Katzen verdienen ein schönes Leben – und können ihren Besitzern jede Menge Liebe zurückgeben.
Internettipps:
https://www.luna-hilfe.de (seit Mai 2010 geschlossen)
https://forum.luna-cat.de/index.php (seit Mai 2010 geschlossen)
https://handicats.forenking.com/index.php
https://www.hunderolli-tierorthopaedie.de/
https://www.tierhilfe-verbindet.de/
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